Dortmunder Boxsport 20/50 e.V.                
"Ring frei" - der Boxsport in Dortmund:

Dieter Schumann und sein ungewöhnlicher Stammtisch (von Heinrich Peuckmann)

In Dortmund gibt es einen Stammtisch ehemaliger Sportler, die sich drei- bis viermal im Jahr treffen und einen Ehrengast einladen, der sie über seine Tätigkeit informiert: einen Opernsänger, Schriftsteller, Manager, Politiker oder einen erfolgreichen Sportler aus dieser oder jener Sportart. Wenn man einen unbeteiligten Beobachter fragen würde, welche Sportart die Stammtischfreunde früher ausgeübt haben, dann würde man alle möglichen Antworten zu hören bekommen, Schwimmer vielleicht, Golfer, Tennisspieler, aber alles wäre falsch. Es sind die Dortmunder Boxer, die in ihrem Vereinslokal "Zum Volmarsteiner Platz" im Kreuzviertel diese ungewöhnliche Mischung aus Unterhaltung, Information, Kultur und natürlich Erinnerung veranstalten.

Geleitet werden diese Stammtische von Dieter Schumann, Vorsitzender des Vereins "Dortmunder Boxsport 20/50" und Seele der Dortmunder Boxerszene. Dort kann man sie alle treffen, die mal einen Namen hatten. Ulrich Besken kommt, in den 1980er Jahren sechsmal Deutscher Meister, die Johannpeter-Brüder, Mitglieder der berühmtesten Boxerfamilie der Welt, sind manchmal Gäste (sechs von zehn der Brüder schafften den Sprung in die Nationalmannschaft) und Willy Quatuor, ehemaliger Europameister bei den Profis, lässt sich gerne sehen, wenn es die Gesundheit nur eben zulässt.

Dieter Schumann leitet diese Sitzungen mit unüberhörbarem Humor, unterbricht den Schriftsteller zum Beispiel bei seiner Lesung, zettelt eine Diskussion an und wenn die Wogen hoch schlagen über die Beurteilung dieser oder jener Aussage, schlägt er gegen einen Gong und ruft: "Ring frei - Runde drei!" Dann liest der Schriftsteller weiter aus seinem Roman oder der Opernsänger erklärt seine Rolle in einer anderen Oper.

Diejenigen, die sich früher im Ring gegenüber standen, sitzen nun friedlich nebeneinander. Sie reden miteinander, haben längst Freundschaft geschlossen und verabreden sich zwischendurch für irgendwelche Zusatztreffen. Gibt es eine bessere Betreuung für Sportler, die sich um ihren Sport verdient gemacht haben? Dabei spielt es keine Rolle, wer früher mal ein Star war und wer es nur bis zu Kämpfen auf Bezirksebene gebracht hat. Boxer ist Boxer und über die Kämpfe des einen lässt sich im Rückblick genauso viel erzählen wie über die Kämpfe des anderen. Kein Wunder, dass auch Ehemalige aus anderen Sportarten an diese muntere Truppe Anschluss gefunden haben. Ursula Happe, 1956 Olympiasiegerin im Brustschwimmen, ist regelmäßiger und gern gesehener Gast. Ihr Sohn Thomas, dies nebenbei, gewann 1984 auch eine olympische Medaille, die Silberne, und zwar im Handball.

Schumann pflegt diese Gruppe, sorgt für gute Laune und achtet darauf, dass niemand nach Hause geht, ohne persönlich angesprochen zu werden. Wer einmal da war, erhält immer wieder Einladungen, und so sind ehemalige Ehrengäste längst zu Stammtischmitgliedern geworden und fühlen sich wohl unter den Boxern. Dies alles folgt dem Motto des Dortmunder Boxvereins: "Nicht nur mit der Hand, auch mit Herz und Hirn!" Und das ist für Schumann nicht einfach bloßes Versprechen, wie man es aus Sonntagsreden kennt, das wird wirklich gelebt. Da werden die Jugendboxer seines Vereins ins Dortmunder Theater geführt, schauen sich eine Aufführung an und lassen sich später von der Theaterpädagogin über die Hintergründe der Schauspielerei informieren. Und diese Jugendlichen sind weiß Gott nicht Leute, denen die Nähe zur Kultur in die Wiege gelegt wurde. Mitglieder aus zehn Nationen und von drei Kontinenten vereinen sich in seinem Verein, jeder wird in seiner kulturellen Eigenart respektiert, jeder lernt auch, sich mit der Kultur des anderen auseinander zu setzen. Grundlage von Training und Wettkampf sind dabei unumstößlich die Boxregeln, und die zielen auf Fairness und Respekt vor der Leistung des Gegners. Schumann selbst war ein guter Boxer, allerdings keiner, der Meisterschaften gewann. 25 Kämpfe hat er bestritten, hat 15 davon gewonnen und verließ nur dreimal geschlagen den Ring. Das reicht, um genau zu wissen, worauf er bei seinen Schützlingen achten muss, um sie nicht zu überfordern und auch, um zu erkennen, welcher Trainer der richtige für seine Leute ist und welcher nicht. Und vor allem reicht es, um alle, die in der Szene einen Namen haben, zu kennen, und das will etwas heißen in Dortmund, denn die Stadt war über viele Jahre hinweg Hochburg des deutschen Boxsports. Spätestens seit Eröffnung der Westfalenhalle 1952 fanden hier immer wieder große Boxabende statt. Untrennbar sind sie mit dem Namen des prominentesten Dortmunder Boxers, mit dem unvergessenen Heinz Neuhaus verbunden, der 1952 im Kampf gegen den Belgier Karel Sys den Titel des Box-Europameisters gewann. Und weil er trotz seines Sieges von der Presse wegen seines mehr kraftvollen als technisch anspruchsvollen Kampfstils kritisiert wurde, ging Heinz Neuhaus mit gehöriger Wut in seinen nächsten Kampf. Gegen den Hamburger Hein ten Hoff ging es Ende 1952 vor 40.000 Zuschauern im Dortmunder Stadion "Rote Erde" um die Deutsche Meisterschaft im Schwergewicht. Ein Kamener Lehrer, der im Stadion war, hat seinen Schülern noch Jahre später gerne erzählt, dass er von dem.........

96. Promi-Stammtisch des Dortmunder Boxsport am 06.Okt. 2005. Dieter Schumann rechts neben dem Ehrengast, dem erfolgreichsten deutschen Amateurboxer Peter Hussing. (Fotos: Heinrich Peuckmann)

Kampf selbst gar nichts mitbekommen hat. Kurz vor der ersten Runde ist er noch schnell zur Toilette gelaufen, um von dem Kampf bloß nichts zu verpassen, als er zurückkam, war er aber schon zu Ende. Ganze 50 Sekunden hatte Heinz Neuhaus gebraucht, um Hein ten Hoff auf die Matte zu schicken. Viele Jahre lang blieb er Europameister, bestritt 58 Kämpfe, von denen er 42 gewann, und das, obwohl Heinz Neuhaus, wie bei einer späteren Untersuchung festgestellt wurde, nur eine Niere hatte! Niemals hätte er, wäre das vorher bekannt gewesen, mit diesem Handicap in den Ring steigen dürfen. Später betrieb er eine Tankstelle in Dortmund-Hombruch, und Auto fahrende Boxfans fuhren zum Tanken gerne einen kleinen Umweg, um sich von Heinz Neuhaus bedienen zu lassen.

Willy Quatour boxte in den unteren Klassen, im Feder- und Halbweltergewicht. Weil es in diesen Klassen aber nicht viel zu verdienen gab, arbeitete Quatuor nebenbei als Fensterputzer und Gebäudereiniger. So konnte es passieren, dass man den amtierenden Europameister irgendwo in Dortmunder Büroräumen beim Putzen treffen konnte. Quatour nutzte diese Tätigkeit dennoch zum Training, denn er joggte von seiner Wohnung in der Dortmunder Vorstadt gerne zu seinem Arbeitsplatz. 1967 griff er zur höchsten Krone und kämpfte gegen den Japaner Takeshi Fuji um die Weltmeisterschaft. Er führte sogar nach Punkten, da zog er sich durch einen Kopfstoß eine klaffende Wunde am Kopf zu und der Kampf musste abgebrochen werden. So nah wie er war seit Max Schmeling kein Deutscher mehr an einem Weltmeistertitel gewesen. Sein Halbbruder Werner Mundt, 2005 verstorben, war Deutscher Meister bei den Amateuren und den Profis. Neben dem Wittener Erich Schöppner, der ebenfalls gerne in der Westfalenhalle boxte und Europameister wurde, bilden Neuhaus und Quatuor auch für Dieter Schumann die Glanzlichter des Dortmunder ProfiBoxsports. Vergessen wird aber in allen Aufzeichnungen seines Vereins auch Karl Heinz Bick nicht, ehemaliger Deutscher Juniorenmeister, der in seinem Profikampf um die Deutsche Meisterschaft gegen Manfred Neuke starb. Obwohl seitdem fast 50 Jahre vergangen sind, bleibt dieser Tod doch Mahnung und Verpflichtung zugleich, einen ungleichen Kampf niemals zu spät abzubrechen, worauf die Ringrichter bei den Amateuren tatsächlich streng achten. Als ich selbst mal einen Sieger bei einer Westfalenmeisterschaft ehrte, war dessen Gegner k.o. gegangen. Ein tief betroffener Ringrichter stand da neben mir im Ring, der gewusst hatte, dass er nach dem nächsten Treffer unbedingt abbrechen musste und der sich nun Vorwürfe machte, es nicht schon vorher getan zu haben. So lebt denn, nach einem Tief in den 1960er Jahren, der Boxsport weiter in Dortmund. In Form einer guten Vereinsstaffel zum Beispiel, die längst wieder über die Grenzen der Stadt hinaus Erfolge feiert, in Form auch einer Frauenstaffel, die ebenso sorgfältig betreut wird. Besonders erfolgreich sind unter ihnen die Schwestern Goda und Ginte Dailydaite, deren Vereinsbeiträge, Trainings- und Boxutensilien von den Seniorenboxern des Vereins bezahlt werden, weil die beiden sonst ihren Sport nicht ausüben könnten. Eine Kleinigkeit könnte der unkundige Betrachter vielleicht meinen, aber von diesen Kleinigkeiten gibt es jede Menge unter den Dortmunder Boxern. Die lassen sich immer neue Projekte einfallen, um ihren Sport bekannt zu machen. "Boxen für Manager" richtet Dieter Schumann ein, und wer sich dabei fragt, ob Manager das nötig haben und sich nicht schon genug im Berufsleben durchsetzen, vergisst das Boxerethos: den anderen im Ring zu achten, ihn als Mensch und Persönlichkeit zu schätzen und ihn niemals zu zerstören. Eine Einstellung, die es gilt, auch auf den Alltag zu übertragen. Um an die Jugend heranzukommen, wird neuerdings "Boxen für Lehrer" angeboten. Indem die Lehrer die Grundregeln des Boxens erlernen und ausprobieren, steigt vielleicht ihr Interesse, Boxen im Sportunterricht ihren Schülern nahe zu bringen. Vielleicht, so hofft man, wird dabei das eine oder andere Talent entdeckt. Einer der boxenden Lehrer dieses Lehrgangs, den Dieter Schumann leitet, war Walter Johannpeter, 1968 selbst Nationalstaffel-Kämpfer, und später Lehrer und Konrektor an einer Grundschule. Es war das Boxen, das ihm und seinen Brüdern, die aus sozial bescheidenen Verhältnissen stammten, Mut machte, den beruflichen Aufstieg zu schaffen. In diesem Sinne verstehen die Dortmunder Boxer ihren Sport noch immer. Was sie alles tun, um normale, aber auch um Problemjugendliche zu integrieren und ihnen den Einstieg ins Leben zu ermöglichen, ist schon aller Ehren wert. Dass dabei auch Kultur ein Faktor ist, darauf müssen andere Sportler - und nicht nur sie - erst einmal kommen.
Für die Dortmunder Boxer ist es inzwischen längst eine Selbstverständlichkeit.

Gäste des Stammtischs im Dezember 2005 (von links): Fußball-Legende "Siggi" Held, Schwimm-Olympiasiegerin
Ursula Happe und der ehemalige Sportdezernent Erich Rüttelt rechts Gastgeber Dieter Schumann.
                                            Bericht und Fotos: Heinrich Peuckmann